Die Resonanz des Ungarn-Aufstands von 1956 [14]

Der Aufstand des ungarischen Volkes im Jahr 1956 hatte einen starken Widerhall auch in der bulgarischen Gesellschaft. Die Geheimpolizei unternahm vorbeugend Verhaftungen und Zwangsaussiedlungen von sogenannten „Ehemaligen“, Intellektuellen, Studenten und anderen verdächtigen Elementen.
Agenten der Staatssicherheit denunzierten Personen, die in einer Reihe von Mittelschulen im ganzen Land Flugblätter zur Unterstützung des Ungarn-Aufstands und Losungen mit antisowjetischem Inhalt verbreiten: die Gymnasien in den Dörfern Bregovo, bei Vidin, Belimel, Ruzhitzi und Vladimirovo bei Michailovgrad, Dimovo bei Belogradtchik und in den Städten Teteven, Nikopol, Straldzha, Varna, Vidin, Jambol, Sofia, „Ikonomitcheski technikum“ in Pleven, „Minnen technikum“ in Pernik, „Mechanotechnikum“Stalin“ in Sofia und andere. Das bezog sich auf Schüler, die um eine Verminderung der Pflichtstunden für Russisch baten oder um die Aufhebung der Pflicht, die russische Oktoberrevolution von 1917 in Bulgarien zu feiern. Ähnliche Forderungen gab es auch von Studenten in Sofia, Plovdiv und Varna.
Nach vorbereiteten Listen verhafteten die Sicherheitskräfte am 5. November 1956 im ganzen Land 372 Personen, von denen ein Großteil sofort in das Arbeitsumerziehungslager Belene geschickt wurde. Es begannen Zwangsaussiedlungen von Einzelpersonen und ganzen Familien aus den Großstädten. Dabei handelte es sich vor allem um Menschen, über die die Staatssicherheit Informationen hatte, dass sie das Regime nicht unterstützten.
Aus Sofia wurde damals zunächst eine Gruppe von 384 Familien zwangsausgesiedelt, auf derselben Liste standen die Namen weiterer 3796 Familien.
Im Herbst desselben Jahres relegierte man als präventive Maßnahme rund 500 Studenten von den Universitäten des Landes, die von der Staatssicherheit verdächtigt wurden, potentielle Teilnehmer an möglichen Demonstrationen zu sein oder sogar eines Aufstands wie in Ungarn.

Der Prager Frühling

Die politische Liberalisierung in der Tschechoslowakei von Anfang Januar bis zum 20. August 1968, bekannt als „Prager Frühling“, beunruhigte sehr stark die Parteinomenklatur in Bulgarien, wie in den anderen osteuropäischen Staaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den sowjetischen Einfluß-bereich gerieten. Die Sicherheitsdienste bekamen als zusätzliche Aufgaben, die Jugend und die Intellektuellen zu beobachten und unter Kontrolle zu halten.

Am 3. August 1968 trafen sich in Bratislava die Parteileitungen der UdSSR, Bulgariens, der DDR, Polens, Ungarns und der Tschechoslowakei, um dort die sogenannte „Bratislaver Erklärung“ zu unterschreiben, in der sie Treue zu den Ideen und Praktiken des Kommunismus bezeugten und ihre Unversöhnlichkeit im Kampf gegen die Ideologie des „bürgerlichen Revisionismus“ bekundeten.
Der bulgarische Partei- und Staatsführer Todor Zhiwkow verkündete als Erster die Idee eines gewaltsamen Eingriffs in die inneren Angelegenheiten der Tschechoslowakei und wurde dabei von Walter Ulbricht, Partei- und Staatschef der DDR, und Wladislaw Gomulka, Parteichef der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, unterstützt.

Eine Gruppe tschechischer Bulgaristen und Intellektueller schickte einen „Offenen Brief“ an die bulgarische Zeitung „Literaturen Front“, in dem sie ihre Sorge wegen der Desinformationen in der bulgarischen Partei-Presse über die Ereignisse in der Tschechoslowakei bekundete.

Mit dem streng geheimen Erlass Nr. 39 vom 2. August 1968 verabschiedete der bulgarische Ministerrat den Beschluß, „mit bewaffneten Kräften dem tschechoslowakischen Volk in seinem Kampf gegen die Konterrevolution Hilfe zu leisten“.
Die militärische Intervention, Codename „Donau“, begann in der Nacht vom 20. zum 21. August 1968 mit dem Einmarsch von Truppen der UdSSR, Polens, Bulgariens und Ungarns. Bulgarien beteiligte sich an der völkerrechtswidrigen Invasion mit zwei motorisierten Regimentern in einer Gesamtstärke von 2164 Mann und 26 Panzern.

Das daran beteiligte 12. Regiment hatte die Aufgabe, das Gebiet um die Stadt Banska Bistritza und die Stadt Zwoljan zu besetzen und die dort befindlichen tschechoslowakischen Streitkräfte zu neutralisieren, das ebenfalls eingesetzte 22. Regiment die Flughäfen Ruzine und Wodohoci bei Prag mitzubesetzen.

Bei den bulgarischen Soldaten handelte es sich um Rekruten, die bis zum letzten Moment nicht darüber informiert wurden, wohin sie geschickt werden sollten. Nach Zeitzeugenberichten waren viele der Teilnehmer geschockt und psychisch traumatisiert, als sie vor ihren Panzern protestierende Altersgenossen sahen.

Wie nach dem Aufstand 1953 in Berlin, so führte das Politbüro der Bulgarischen Kommunistischen Partei auch nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ eine harte und kompromißlose Politik durch, um den weiteren Einfluss der tschechischen Reformideen auf die bulgarische Gesellschaft zu verhindern. Der Druck und die Kontrolle, vor allem auf die Intelligenz und die Jugend, wurden erneut verstärkt. Das künstlerische Leben im Lande entsprach der Folge der gesellschaftlichen Stagnation der Jahre 1947 bis 1958.

Der wegen seiner Regimekritik später im Londoner Exil von Mitarbeitern der bulgarischen Staatssicherheit ermordete Schriftsteller und Publizist Georgi Markov stellte damals fest:
„Nach den tschechoslowakischen Ereignissen hat die ideologische Abteilung der Staatssicherheit jetzt einen riesigen Personalbestand und damit die Kontrolle über alles, was sie ideologisch für relevant hält.“

Der individuell wie kollektiv geäußerte Protest gegen das Regime verstärkte sich zwar sogar noch, aber die Staatsmacht reagierte darauf vor allem mit einer völligen Informationssperre, so auch im Falle der Gefängnisrevolte von Stara Zagora.
Am 9. September 1969, dem 25. Jahrestag des kommunistischen Putsches und der Machtergreifung in Bulgarien, nahmen fünf junge politische Häftlinge nach dem Abendappell das Gefängnis in Stara Zagora ein und befreiten die anderen 80 politischen Gefangenen aus ihren Zellen. Während der Niederschlagung des Aufstandes beging der Anführer der Aufständischen Petko Tchobanov Selbstmord.

Nach der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

Die Unterzeichnung der Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im Jahr 1975 in Helsinki weckte erneut Hoffnung in den Völkern des Ostblocks, mittelfristig von ihren totalitären Regimen befreit zu werden, weil in dem historischen Dokument auch die Menschenrechte als legitime Berufungsinstanz verankert waren. Immer mehr Menschen in den Ländern des Ostblocks wagten vor diesem Hintergrund, ihren Protest gegen die Einschränkungen von Menschen- und Bürgerrechten offen zu äußern und die strikte Einhaltung dieser Rechte seitens der Regierung einzufordern.

Die Aktionen der unabhängigen Gewerkschaft „Solidarność“ in Polen gaben den Menschenrechtsbewegungen in Osteuropa neue Impulse. Nach dem Vorbild der freien polnischen Gewerkschaft brachen schon im Herbst 1980 Streiks in Rumänien, Georgien und im sowjetischen Baltikum aus. Stimmen und Bekundungen der Unzufriedenheit machten sich auch in Bulgarien bemerkbar. Im September 1980 bekam die Abteilung VI der Staatssicherheit mit dem Erlaß, den „politischen und ideologischen Feind“ zu beobachten, die Aufgabe, „die organisierte feindliche Tätigkeit, die unter dem Einfluss der antisozialistischen Kräfte in Polen entsteht, zu neutralisieren“. Bis zum Ende des selben Jahres wurden gegen die Intelligenz, die Jugend und „konterrevolutionäre Elemente“ gerichtete Operationen durchgeführt. Die Einfuhr von polnischen Büchern, Zeitungen und Filmen unterlag einer verschärften Zensur. Außerordentliche Unruhe bereitete der bulgarischen Staatsssicherheit auch der Strom polnischer Touristen an die Schwarzmeerküste.

Die bulgarische Presse produzierte Propaganda-material mit Desinformationen über die polnische Realität und die Ziele des polnischen Volkes und der freien Gewerkschaft, das Land zu demokratisieren. Immer öfter erschienen in der Partei-Zeitung „Rabotnitschesko delo“ sowjetische Artikel, übersetzt aus „Pravda“ und „Izwestia“, über „die Einmischung der Westmächte in die inneren Angelegenheiten Polens.“

Am 14. Oktober 1981 schickte Todor Zhivkov deshalb an das Politbüro der BKP einen Bericht, in dem er seine Besorgnis mitteilte, dass in Polen etwas geschieht, was sich in Bulgarien wiederholen könnte. Die Abteilung 2 der VI. Hauptverwaltung der Staatssicherheit registrierte eine vermehrte Verbreitung anonymer Flugblätter und war über Versammlungen junger Leute in Privatwohnungen, auf denen die polnischen Ereignisse diskutiert wurden, informiert.

Eine Gruppe Jugendlicher hatte die Absicht, eine „Deklaration 89“ gegen die Verletzung der Menschenrechte und der Gerechtigkeit in Bulgarien vorzubereiten sowie diese außerhalb des Landes zu veröffentlichen.

Eine der wichtigsten Aktionen der Staatssicherheit in der Zeit zwischen 1981 und 1982 wurde „Dissidenten“ genannt. Sie erfaßte die Observation und „Bearbeitung“ einer Gruppe von Künstlern aus Sofia, Burgas, Varna, Stara Zagora, Jambol und anderen Städten. Die Betroffenen wurden verhaftet und oppositioneller Tätigkeit beschuldigt, einige von ihnen wurden in die Psychiatrie gesperrt. Von den 312 festgenommenen Autoren und Verteilern der Flugblätter waren 45% Jugendliche. Unter dem Einfluss der Ereignisse in Polen wuchs in Bulgarien die Zahl der oppositonellen Gruppen unter der Jugend stark an. Nach Berichten der Staatssicherheit gab es 1982 64 solcher Gruppierungen, zu denen 295 Einzelpersonen gehörten, 1980 waren es noch 86 Personen in 18 Gruppen gewesen.

Im Herbst 1986 verfassten politische Gefangene einen “Offenen Brief” für die Einhaltung der Menschenrechte und schickten ihn an die damals in Wien tagende Helsinki – achfolgekonferenz.
Darin hieß es:

Offener Brief- Appell
Sehr geehrte Vertreter der europäischen Länder, der USA und Kanadas. Wir wenden uns an Sie und an die breite europäische Öffentlichkeit mit dem Appell: Die Konferenz in Wien soll ihre Tätigkeit nicht abschließen, bevor nicht die elementarsten Menschenrechte für alle europäischen Völker gesichert sind… bis der Tag kommt, da jeder Bürger Europas frei und ohne Angst vor Verfolgung seine Gedanken, Meinungen und Überzeugungen in schriftlicher und mündlicher Form äußern kann…

Um dieselbe Zeit verfassten und unterzeichneten die Autoren des oben zitierten Appells anläßlich des Jahrestages des Ungarn-Aufstandes eine „Deklaration zur Vereinigung“ der Dissidenten aus vier osteuropäischen Ländern und verwiesen darin zugleich auf die Ereignisse vom 17. Juni 1953 in der DDR, den „Prager Frühling“ von 1968 und die „Solidarność“-Bewegung in Polen.

Unter beiden Dokumenten finden sich die Unterschriften von Ilija Minev, Eduard Genov, Grigor Simov, Tzeko Krastev, Stefan Savovski und Bozhidar Statev, die später, am 16. Januar 1988, „Die unabhängige Gesellschaft zur Verteidigung der Menschenrechte in Bulgarien“ gründeten. Die Organisation stellte sich das Ziel, für die Verteidigung der Menschenrechte zu kämpfen sowie für die Wiederherstellung aller bürgerlichen Freiheiten, die von der kommunistischen Macht in Bulgarien seit mehr als 40 Jahren unterdrückt wurden.

>> Den Bürgern die Grundrechte entzogen [15]

Eduard Genov, eltimir.ucoz.ru

Flugblätter der Widerstandsbewegung zum ungarischen Aufstand,

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